Kardinal Christoph Schönborn
“Was ist faul im Staate Österreich?”
Macht Familie glücklich? Für Kinder ist die Antwort klar: Ja, natürlich! Was gibt es Schöneres, besonders für kleine
Kinder, als bei Mama und Papa zu sein. Und das möglichst lange. Bei Erwachsenen fällt die Antwort schon
differenzierter aus: Familie ja, aber ... Familie gut und schön, aber zuerst der Beruf, die Karriere, die Wohnung, das Auto und, und, und ...
"Liebe und Geborgenheit, Sicherheit und Bindung in der Familie zu erleben", gehört zu den wesentlichsten
Erfahrungen, die Kinder in der Familie machen sollten, wie jüngste Umfragen bei Eltern belegen. Die Realität sieht
aber anders aus: Immer mehr junge Familien brauchen für ihre unter dreijährigen Kinder außerfamiliäre Betreuung.
Da beide Eltern einen Beruf ausüben - und auch müssen, bleibt immer weniger Zeit für ein "echtes" Familienleben.
Bleibt dann ein Elternteil, meist die Mutter, doch einige Jahre zu Hause, leben Alleinverdienerfamilien mit einem oder
mehreren Kindern oft nur noch am Existenzminimum oder sogar darunter. Für viele keine lustigen Jahre. Das heißt
verzichten und sparen, und nochmals sparen. Im Vergleich dazu leben Doppelverdiener ohne Kinder wesentlich
angenehmer und sorgenfreier. Kein Staat kann jedoch ohne Kinder und Familien existieren. Sie allein be-deuten
Zukunft. Wenn aber Kinderreichtum noch immer allzu oft zur Armutsfalle wird, dann ist etwas faul im Staate Österreich!
In Vorwahlzeiten lesen wir auf den Wahlplakaten viele Versprechungen seitens der Politiker. Familien wollen aber
keine Privilegien, sondern ein Existenzrecht. Wenn der Staat nach wie vor "Steuerpflicht vor Existenzrecht" setzt, wird
Familie oft zur Armutsfalle. Eine gesicherte Existenz würde das "Ja zum Kind" erleichtern. Dann müssen junge Paare
nicht mehr wählen: Karriere oder Familie? Beides soll und muss in Österreich möglich sein. Dann wäre nicht nur für
die Zukunft des Landes, sondern auch für das Wohl der Kinder und der Eltern gesorgt. So lange Staat und Politik
"Erwerbsarbeit und Familienarbeit" nicht als gleichwertig anerkennen, zählen viele Familien zu den Verlierern in
unserer Gesellschaft, obwohl sie die Zukunft unseres Landes sind. Eine familiengerechte Steuerreform muss daher,
egal wie die Wahlen ausgehen, ganz oben auf der Prioritätenliste jeder künftigen Regierung stehen. Es ist eine (Über-) Lebensfrage!
12.9.2008, in der Gratis Zeitung “Heute”
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